Weit gereiste Steine – Ein frühmittelalterliches Gräberfeld führt zur Entdeckung einer steinzeitlichen Raststation

Foto: Sarah Leib

Nach dem allmählichen Rückzug des Rheingletschers erstreckte sich ein einziger grosser See vom heutigen Lindau bis annähernd auf die Höhe von Sargans – und somit auch über weite Teile Liechtensteins. Der See zerfiel um 12000 v.Chr. in zwei kleinere, den Rheinsee und den Bodensee, die im Laufe der Jungsteinzeit zunehmend verlandeten. Eine neue Landschaft entstand, Flora und Fauna breiteten sich aus, und ihnen dicht auf den Fersen: der Mensch.

Eine Notgrabung in Schaan wird eingeleitet

Bevor von den steinzeitlichen Funden die Rede ist, zuerst noch ein grosser Sprung in die jüngere Vergangenheit: In den Jahren 1934 und 1940 fanden unter der Leitung von Pfarrer Anton Frommelt Ausgrabungen in Schaan, Areal «Specki», statt (Abb. 1). Ein frühmittelalterliches Gräberfeld des 6./7. Jahrhunderts n.Chr. war entdeckt worden. Die Ausdehnung des Gräberfelds blieb damals – wie heute – allerdings unklar. Als 2021 die beiden unmittelbar angrenzenden Parzellen überbaut werden sollten, wurde daher vom Amt für Kultur, Abteilung Archäologie, eine Notgrabung eingeleitet. Eins schon mal vorweg: weitere frühmittelalterliche Gräber traten keine zutage (leider, aus Sicht des erwartungsfrohen archäologischen Teams). Dafür wurde die Grabungsequipe mit anderen, unerwarteten Befunden und Funden überrascht.

Foto: Sarah Leib
Abb. 1: Zwei Archäologinnen beim Freilegen von Befunden auf der Notgrabung in Schaan, Feldkircher Strasse (Sarah Leib).
Vom Frühmittelalter in die Jungsteinzeit

Im Südwesten der rund 2300 m2 grossen Baufläche, in nur wenigen Metern Entfernung zu den frühmittelalterlichen Befunden, stiess das Team der Archäologie auf mehrere bis zu 90 x 40 cm großer und 5 bis 10 cm dicker Steinplatten. Die Steinsetzung erstreckt sich über eine Fläche von rund 12 m2 (Abb. 2). Um die Steinplatten herum konzentrierten sich zahlreiche Abschläge aus Silex, was für eine Herstellung von Steingeräten vor Ort spricht. Ebenfalls um diese Steinplatten herum lagen mehrere Pfeilspitzen. Deren Rohmaterial wurde unter anderem in der Schaffhauser Gegend abgebaut. Abschläge dieses Materials fanden sich während der Ausgrabungen keine. Die Pfeilspitzen dürften demnach als Fertigprodukt nach Schaan gekommen sein.

Abb. 2: Steinlage unbekannter Funktion und Verteilung der Silexartefakte. Die Punktwolke außerhalb der Grabungsfläche ist auf die Erweiterung des Schnitts zurück zu führen (Sarah Leib).

Der muschelig brechende Silex kann durch gezielte Bearbeitungstechniken zu spezialisierten Werkzeugen mit scharfen Kanten verarbeitet werden. Zum Inventar der gefundenen Artefakte zählen neben zahlreichen Abschlägen sechs Pfeilspitzen (Abb. 3), eine Klinge sowie drei Kratzer. Sie datieren den Befund typologisch in das 4. Jahrtausend v.Chr. und somit in die Jungsteinzeit. Einzelne kleinere, an den Kanten retuschierte Artefakte dürften noch älter, also mittelsteinzeitlich, sein.

Abb. 3: Auswahl der Pfeilspitzen aus Schaan, Feldkircher Strasse (Sarah Leib).
Handel von Rohstoffen und Fertigprodukten

Die rund 141 geborgenen Steinartefakte – sie sind nur wenige Millimeter bis einige Zentimeter gross – lassen sich in zehn Rohstoffgruppen, d.h. Herkunftsregionen, unterteilen. Sie sind Zeugen der

Mobilität von steinzeitlichen Jäger- und Sammlergruppen. Mit rund 120 Kilometer Luftlinie liegen die Abbaugebiete der Schaffhauser Gegend und dem angrenzenden Südwestdeutschen Gebiet am weitesten vom Fundort in Schaan entfernt (Abb. 3, rechts außen, Abb. 4). Das Abbaugebiet von ein paar Abschlägen Bergkristall, sechs Artefakten aus einer «Ölquarzit»-Variante sowie einer Pfeilspitze (Abb. 3, rechts außen) stammen aus den Schweizer Alpen.

Auch die Verbindung nach Vorarlberg ist anhand der Rohmaterialien gegeben: Der Radiolarit von acht weiteren Fundstücken der Ausgrabung stammt aus Sonntag/Buchboden, Großes Walsertal. Aus dem Kleinwalsertal, wo bereits zahlreiche mesolithische Abbaustellen in der jüngeren Vergangenheit archäologisch untersucht und dokumentiert wurden (siehe dazu den Blogbeitrag von Caroline Posch), sind keine Rohstoffe belegt. Dafür stammt der Rohstoff von 66 Artefakten aus dem benachbarten Oberstdorf im Allgäu.

Abb. 3: Beim «Putzen» des Profils entdeckt: eine jungsteinzeitliche Pfeilspitze aus rötlichem Silex. Das Rohmaterial stammt aus der Schaffhausener Gegend (Sarah Leib).
Laufende Forschungsarbeit

Die Frage der Herkunft der Silices ist geklärt, vieles andere ist derzeit jedoch noch unbeantwortet: Welche Funktion erfüllten die hier niedergelegten Steinplatten? Wie stehen sie in Zusammenhang mit den gefundenen Silex-Artefakten? Ab wann und wie lange suchten Menschen diesen Ort auf? Wurden die Pfeilspitzen absichtlich hier niedergelegt, vielleicht als Bestandteil eines Rituals? Oder gingen sie verloren? Weitere wissenschaftliche Auswertung ist vor kurzem gestartet worden und sollen genau jenen und vielen weiteren Fragen auf den Grund gehen, um so den Funden und Befunden noch die eine oder andere Antwort zu entlocken. Sollte sich die zeitliche Ansprache einiger Fundstücke als mittelsteinzeitlich tatsächlich bewahrheiten, dann handelt es sich um den bisher ältesten Fundplatz des Landes und der näheren Umgebung.

Autorin: Sarah Leib, Archäologin, Amt für Kultur – Abteilung Archäologie in Liechtenstein

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: